Stellungnahme der UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell zur Lage im Nahen Osten nach ihrem zweitägigen Besuch in der Region.
«Heute habe ich einen zweitägigen Besuch im Nahen Osten abgeschlossen, wo die eskalierende Gewalt weiterhin einen unerträglichen Tribut von Kindern fordert.
Am ersten Tag in Israel traf ich mich mit einigen der vielen israelischen Familien, die am 7. Oktober unsägliche Gewalt erlebt haben. Darunter die Geiselnahme von Kindern, die Tötung von Angehörigen und den Verlust ihres Zuhauses und ihren Dörfern.
Ich sprach auch mit einem Verwandten der beiden israelischen Kinder, dem vierjährigen Ariel und sein einjähriger Bruder Kfir, die noch immer im Gazastreifen als Geiseln festgehalten werden. Er sagte mir, er wolle sie einfach nur zurückhaben, zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Vater. ‘Wir lieben sie so sehr.’
Familienmitglieder von freigelassenen Kindergeiseln berichteten mir von der schrecklichen Situation, gefangen gehalten zu werden, ohne zu wissen, was der nächste Tag bringen würde. Sechs Monate später kennen die Familien der israelischen Geiseln das Schicksal ihrer Angehörigen, die sich noch immer im Gazastreifen befinden, nicht - was es unmöglich macht, ihr Trauma aufzuarbeiten und zu heilen.
Die Mitarbeitenden des Schneider Children's Medical Center in Petach-Tikvah, in dem einige der israelischen Geiselkinder nach ihrer Freilassung im November betreut wurden, sagten mir, dass es ein langer Weg der Genesung sein würde, bis sich die Kinder wieder sicher fühlen.
Ich hatte auch konstruktive Gespräche mit israelischen Beamten, unter anderem über die schreckliche humanitäre Krise im Gazastreifen und die dringende Notwendigkeit, einen besseren Zugang zu gewährleisten. Ich habe ihre Zusicherung begrüsst, dass die humanitären Helfer besseren Zugang zu den Kindern haben werden, die dringend Hilfe benötigen. Wir sehen der Umsetzung dieser Zusicherung und der Sicherheit für die Helfer und die Kinder, die sie betreuen, erwartungsvoll entgegen.
An meinem zweiten Tag besuchte ich den Staat Palästina, wo ich mit Familien und Beamten im Westjordanland, einschliesslich Ostjerusalem, zusammentraf. Ich hörte erschütternde Berichte von Familien und Kindern über Angst und Gewalt, die ihr Leben seit langem bestimmen und in den letzten sechs Monaten erheblich zugenommen haben. Allein in diesem Jahr sind 37 palästinensische Kinder und zwei israelische Kinder getötet worden.
Ich habe Kinder getroffen, die jeden Tag auf dem Weg zur Schule von Absperrungen und Checkpoints behindert werden. Ich habe auch mit einem Jungen gesprochen, der im Alter von 11 Jahren zum ersten Mal verhaftet wurde. Sein Bruder wird jetzt festgehalten, und die Familie weiss nicht, wo er sich aufhält.
Ich besuchte das Al-Makassed-Krankenhaus in Ostjerusalem, wo ich die kleinen Drillinge Noor, Najwa und Nejma traf. Die Ärzte erzählten mir, dass ihre Mutter vor acht Monaten aus dem Gazastreifen zur Entbindung ins Krankenhaus kam und die Babys so klein waren, dass sie einen Inkubator und eine besondere medizinische Versorgung benötigten, um zu überleben. Die Mutter musste in den Gazastreifen zurückkehren, aber dann brach der Krieg aus und sie konnte nicht mehr zu ihren Babys zurückkommen. Sie befürchtet, dass sie sterben könnte, bevor sie die Kinder wiedersieht.
Gleichzeitig wurden im Gazastreifen Berichten zufolge mehr als 13 800 Kinder getötet, Tausende wurden verletzt und Tausende weitere stehen am Rande einer Hungersnot.
Unsere Mitarbeitenden bei UNICEF sind von der Gewalt nicht verschont geblieben. Viele unserer Kollegen haben in Gaza Familie, Freunde und ihr Zuhause verloren. Über 200 humanitäre Helfer wurden bei dem Versuch, das Leben anderer zu retten, getötet.
Kinder fangen keine Kriege an und sie können sie auch nicht beenden, aber sie zahlen immer den höchsten Preis. Im Interesse aller Kinder fordere ich die Konfliktparteien auf, alle israelischen Geiseln freizulassen, einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen zu schliessen, den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen zu ermöglichen und von jeglicher weiterer Gewalt gegen Kinder abzusehen.
Die letzten Tage haben uns daran erinnert, dass sich Feindseligkeiten schnell in der Region ausbreiten können. Wie immer leiden Kinder im Krieg ungemein. Jeder von uns hat die Pflicht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das Leben von Kindern zu schützen.»