Seit einigen Tagen ist UNICEF-Sprecher James Elder in Gaza. Heute hat er von seinen Eindrücken vor Ort berichtet.
«Ich möchte über zwei wichtige Themen sprechen, von denen die Menschen hier in Gaza sagen, dass sie für ihr Überleben entscheidend sind: die Sicherheit der Menschen in Rafah und die Lieferung von Hilfsgütern.
Rafah ist nicht wiederzuerkennen. Die Strassen sind überfüllt und Zelte stehen an Strassenecken und auf sandigen Flächen. Die Menschen schlafen auf der Strasse, in öffentlichen Gebäuden und an jedem anderen verfügbaren Platz. Die weltweiten Standards für humanitäre Notsituationen legen fest, dass maximal 20 Personen sich eine Toilette teilen sollten. In Rafah gibt es etwa eine Toilette für 850 Menschen. Bei den Duschen ist es noch schlimmer. Es gibt eine Dusche für 3600 Menschen. Das ist eine eklatante Missachtung der menschlichen Grundbedürfnisse und der Menschenwürde.
Dieselben Standards besagen, dass jeder Mensch täglich 15 Liter Wasser braucht, und ein absolutes Minimum von drei Litern, nur um zu überleben. Als ich im November hier war, waren Familien und Kinder im Gazastreifen auf drei Liter oder weniger Wasser pro Person und Tag angewiesen. Heute haben die befragten Haushalte im Durchschnitt Zugang zu weniger als einem Liter sauberem Wasser pro Person und Tag.
Das benachbarte Chan Yunis ist ebenfalls nicht wiederzuerkennen, wenn auch aus einem anderen Grund – es existiert kaum noch. In meinen 20 Jahren bei den Vereinten Nationen habe ich noch nie derartige Zerstörung gesehen. Nur Chaos und Ruinen, Schutt und Trümmer, die in alle Richtungen verstreut sind. Völlige Vernichtung. Beim Gang durch die Strassen war ich überwältigt von dem Verlust.
Das bringt uns zurück nach Rafah und den endlosen Diskussionen über eine gross angelegte Militäroperation in Rafah. Rafah ist eine Stadt der Kinder. 600 000 Mädchen und Buben leben dort. Rafah beherbergt einige der letzten verbliebenen Krankenhäuser, Notunterkünfte, Märkte und Wasserversorgungssysteme in Gaza.
Und dann ist da noch der Norden. Gestern war ich wieder in Jabalia. Zehntausende von Menschen drängen sich auf den Strassen und halten sich die Hand vor den Mund – das universelle Zeichen für Hunger.
Als ich vor einer Woche in den Gazastreifen kam, standen Hunderte von Lastwagen mit lebensrettender humanitärer Hilfe bereit, die darauf warteten, zu den Menschen zu gelangen, die sie dringend benötigten – allerdings auf der falschen Seite der Grenze. Hunderte von Lkw der UN und INGO [Internationalen Nichtregierungsorganisationen] stehen dort im Stau und warten auf die Einfahrt nach Gaza.
In der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) [fünfstufige Skala für Hungerrisiken] wurde letzte Woche festgestellt, dass im nördlichen Gazastreifen eine Hungersnot unmittelbar bevorsteht. Der Gazastreifen hat nun den höchsten Prozentsatz einer Bevölkerung, der die höchste Einstufung seit Beginn der Klassifizierung im Jahr 2004 erhalten hat.
Vor dem Krieg war Mangelernährung im Gazastreifen selten, weniger als ein Prozent der Kinder unter fünf Jahren war akut mangelernährt. Heute ist eines von drei Kindern unter zwei Jahren akut mangelernährt. Es liegt auf der Hand, dass der Norden dringend grosse Mengen an Lebensmitteln und therapeutischer Nahrung benötigt. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unsere Bemühungen, diese Hilfe zu leisten, eingeschränkt werden.
Es gibt den alten Grenzübergang Erez, der genutzt werden könnte, nur zehn Minuten von den hungernden Menschen entfernt. Zehn Minuten. Würde er geöffnet, könnten wir die humanitäre Krise im Norden innerhalb weniger Tage bewältigen. Aber er bleibt geschlossen.
Zwischen dem 1. und 22. März wurde ein Viertel der 40 humanitären Hilfsmissionen in den nördlichen Gazastreifen abgelehnt. UNRWA wird nun daran gehindert, Lebensmittel in den Norden zu bringen, obwohl bislang 50 Prozent der in den Norden gelieferten Lebensmittel von UNRWA geliefert wurden. Um es klar zu sagen: Lebensrettende Hilfe wird unterbunden. Menschen verlieren ihr Leben. Die Menschenwürde wird missachtet.
Die Entbehrung, die aufgezwungene Ausweglosigkeit lassen die Bevölkerung verzweifeln. Die Nerven der Menschen liegen blank angesichts der ständigen Angriffe. Sie fragen oft, ob es noch Hoffnung gibt. Alles bewegt sich hier zwischen den Extremen, auch diese Frage. Auf der einen Seite erzählt mir eine Mutter, dass sie geliebte Menschen verloren hat, ihr Zuhause und die Möglichkeit, ihre Kinder regelmässig zu ernähren. Alles, was sie noch besitzt, ist Hoffnung. Gestern dann sass UNICEF mit Jugendlichen zusammen, von denen einige sagten, sie wünschten sich so sehr, dass ihr Albtraum ein Ende hätte und dass sie hofften, getötet zu werden.
In Gaza wird regelmässig das Unaussprechliche gesagt. Von Mädchen im Teenageralter, die hoffen, dass sie getötet werden, bis hin zu der Aussage, dass ein Kind die letzte noch lebende Person der gesamten Familie ist. Solches Grauen ist hier nicht mehr einzigartig.
Trotz allem gibt es so viele tapfere, hilfsbereite und unermüdliche Palästinenserinnen und Palästinenser, die sich gegenseitig unterstützen. Und die UN-Organisationen und UNICEF machen weiter. Wir von UNICEF setzen uns weiterhin für jedes Kind ein. Wasser, Schutz, Ernährung, Unterkunft – UNICEF ist hier.
Wie wir gestern gehört haben, muss der Waffenstillstand umfassend sein, nicht nur symbolisch. Die Geiseln müssen nach Hause zurückkehren. Die Menschen in Gaza müssen leben dürfen.
In den drei Monaten, die zwischen meinen Besuchen lagen, sind alle schrecklichen Zahlen dramatisch angestiegen. Gaza hat die Rekorde der Menschheit für ihre dunkelsten Kapitel gebrochen. Die Menschheit muss jetzt dringend ein anderes Kapitel schreiben.»