Statement von Jonathan Crickx, Kommunikationsleiter von UNICEF in Palästina.
«UNICEF schätzt, dass mindestens 17 000 Kinder im Gazastreifen unbegleitet oder von ihren Familien getrennt sind – diese Zahl entspricht einem Prozent der 1,7 Millionen Menschen, die innerhalb des Gazastreifens vertrieben sind. Es handelt sich hierbei um eine Schätzung, da es unter den derzeitigen Sicherheits- und humanitären Bedingungen nahezu unmöglich ist, Informationen zusammenzutragen und zu überprüfen. Dennoch bedeutet jede einzelne dieser Trennungen eine herzzerreissende Geschichte von Verlust und Trauer.
In dieser Woche bin ich aus Gaza zurückgekehrt. Ich bin vielen Kindern begegnet – jedes von ihnen hat seine eigene erschütternden Geschichte. Von den zwölf Kindern, die ich getroffen habe, hatte mehr als die Hälfte ein Familienmitglied in diesem Krieg verloren. Drei Kinder hatten einen Elternteil verloren, zwei sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater. Hinter jeder dieser Zahlen steht ein Kind, das mit dieser schrecklichen neuen Realität konfrontiert ist.
Die elfjährige Razan war mit ihrer Familie im Haus ihres Onkels, als dieses in den ersten Wochen des Krieges bombardiert wurde. Sie verlor fast alle ihre Angehörigen. Ihre Mutter, ihr Vater, ihr Bruder und ihre beiden Schwestern wurden getötet. Razans Bein musste amputiert werden. Nach der Operation infizierte sich ihre Wunde. Razan wird jetzt von ihrer Tante und ihrem Onkel versorgt, die nach Rafah geflohen sind.
In einem Zentrum, in dem unbegleitete Kinder betreut werden, habe ich zwei Kinder im Alter von sechs und vier Jahren kennengelernt. Sie sind Cousins und ihre Familien wurden Anfang Dezember getötet. Vor allem das vierjährige Mädchen steht noch unter Schock.
Ich habe diese Kinder in Rafah getroffen. Wir befürchten, dass die Situation von Kindern, die ihre Eltern verloren haben, im Norden und im Zentrum des Gazastreifens noch dramatischer ist.
In Konfliktsituationen kümmert sich häufig die erweiterte Familie um verwaiste Kinder. Doch viele Familien sind angesichts fehlender Nahrungsmittel, Wasser und Unterkünfte verzweifelt. Es ist eine grosse Herausforderung, sich um ein weiteres Kind zu kümmern, während sie selbst mit aller Kraft versuchen, ihre Kinder und Familien zu versorgen. In dieser Situation ist es wichtig, dass die vorübergehende Versorgung und Unterstützung der Kinder sichergestellt wird. Wo immer möglich, sollten Kinder mit ihren Familien in Kontakt bleiben und Angehörige identifiziert werden, damit sie wieder mit ihnen zusammengeführt werden können, sobald die Situation sich stabilisiert.
Razan steht wie die meisten Kinder, die so Traumatisches erlebt haben, unter Schock. Jedes Mal, wenn sie sich an die Ereignisse erinnert, bricht sie in Tränen aus und ist kraftlos. Razans Situation ist auch deshalb besonders belastend, weil sie sich nur eingeschränkt bewegen kann und keine spezialisierten Unterstützungs- und Rehabilitationsdienste zur Verfügung stehen.
Die mentale Gesundheit der Kinder ist stark beeinträchtigt. Sie zeigen Symptome wie extrem stark anhaltende Angstzustände oder Appetitverlust. Sie können nicht schlafen, brausen emotional auf oder geraten jedes Mal in Panik, wenn sie Bomben hören.
UNICEF schätzt, dass bereits vor diesem Krieg mehr als 500 000 Kinder im Gazastreifen psychologische und psychosoziale Hilfe benötigten. Wir gehen davon aus, dass mittlerweile alle Kinder – eine Million insgesamt – Bedarf haben.
Gemeinsam mit seinen Partnern hat UNICEF mehr als 40 000 Kindern und 10 000 Betreuungspersonen mit psychologischer und psychosozialer Hilfe erreicht. Ich habe an den Angeboten teilgenommen und es war eine Erleichterung zu sehen, wie die Kinder spielen, malen, tanzen, singen und lächeln. Psychosoziale Angebote helfen ihnen, mit der schrecklichen Situation umzugehen. Aber natürlich reichen diese bei weitem nicht aus.
Die einzige Möglichkeit, psychische und psychosoziale Unterstützung in grossem Umfang zu leisten, ist ein Waffenstillstand. Im Jahr 2022 hat der sogenannte Kinderschutz-«Cluster» 100 000 Kinder mit relevanten Programmen erreicht. Auch jetzt könnten wir diese Hilfe ausweiten. Aber unter den derzeitigen Sicherheits- und humanitären Bedingungen ist dies nicht möglich.
Noch eine Anmerkung: Die Kinder haben nichts mit diesem Konflikt zu tun. Dennoch leiden sie, wie kein Kind jemals leiden sollte. Kein einziges Kind sollte je solcher Gewalt ausgesetzt sein, wie wir sie am 7. Oktober und seither gesehen haben.»