Bereits vor dem Regimewechsel vor rund einem Jahr, aber spätestens nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021, verschlechterte sich die Lebenssituation der afghanischen Bevölkerung dramatisch. Rund 24,5 Millionen Menschen, darunter 13 Millionen Kinder, benötigen dringend humanitäre Hilfe. UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell und die UNICEF-Direktorin für globale Kommunikation, Paloma Escudero, waren vor Ort und schilderten ihre Erlebnisse.
Brot und Wasser für die gesamte Familie
In Afghanistan herrscht momentan die schlimmste Dürre seit fast 40 Jahren, die Ernten sind zerstört und die Lebensmittelpreise steigen ins Unermessliche. Der Krieg in der Ukraine verschlimmert die prekäre Ernährungssituation im Land zusätzlich. 24 Millionen Menschen leiden unter Armut, am schlimmsten betroffen sind die Jüngsten unter ihnen. 13 Millionen afghanische Mädchen und Buben sind dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. UNICEF schätzt, dass bis Ende 2022 eine Million Kinder von akuter Mangelernährung betroffen sein werden. Sie könnten sterben, wenn sie nicht schnell Hilfe bekommen.
Auch die Wirtschaftskrise in Afghanistan hat verheerende Auswirkungen auf das tägliche Leben. Als im Jahr 2021 der Grossteil der ausländischen Hilfsgelder eingefroren wurde, brachen wichtige Dienstleistungen zusammen und Einkommensquellen versickerten. Inmitten steigender Arbeitslosigkeit sind aktuell 93 Prozent aller Haushalte mit einem hohen Mass an Ernährungsunsicherheit konfrontiert.
UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell hat sich im ländlichen Afghanistan im Februar 2022 einen Überblick über die Situation vor Ort verschafft. «Das Leid ist überwältigend. Leid und Hunger erdrücken die Familien. Eine 25-jährige Mutter von fünf Kindern erzählte mir, dass ihre Familie sich nur von Brot und Wasser ernährt», so Russell.
Auch der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, einschliesslich der Gesundheitsversorgung, verschlechtert sich. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation benötigen rund 18,1 Millionen Menschen medizinische Versorgung, darunter 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren. Die Unterernährung nimmt stark zu. Das stellte auch Catherine Russell bei ihrem Besuch in einer von UNICEF unterstützen Abteilung für die Behandlung von Kindern mit schwerer akuter Mangelernährung in Kandahar fest. Die Begegnung mit dem drei Monate alten Mädchen Wahida beschreibt sie wie folgt: «Ich sah abgemagerte Säuglinge, die zu schwach waren, um zu schreien, und Mütter, die ebenfalls stark unterernährt waren. Als ich sie hielt, konnte ich ihr Gewicht in meinen Armen kaum spüren.»
Paloma Escudero, UNICEF-Direktorin für globale Kommunikation, besucht im April 2022 das Regionalkrankenhaus Paktya, in Gardez. Dort begegnete sie Sayera, der Mutter der sechs Monate alten Rana, die an akuter Mangelernährung litt und auf sofortige Hilfe angewiesen war. «Sayera erzählte mir, dass ihre Familie zum Frühstück Brot und Tee und zum Mittag- und Abendessen Reis und Kartoffeln esse - die einzigen Grundnahrungsmittel, die sie sich leisten konnten».
Diese Familie gehört zu den 90 Prozent der Haushalte in Afghanistan, die nicht genug zu essen haben. Um dem entgegenzuwirken, unterstützt UNICEF zusammen mit der WHO mehr als 2 300 Gesundheitseinrichtungen, liefert wichtige medizinische Grundausstattung, ermöglicht die Bezahlung der Gehälter des Gesundheitspersonals und führt Schulungen durch. Escudero erzählte, dass der Leiter des Krankenhauses, Dr. Zaheer, sie bat, nach ihrer Rückkehr nach Hause eine Botschaft zu übermitteln: «Was hier für diese Kinder getan wird, wäre ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft nicht möglich gewesen.»
Schulbildung – nur nicht für alle
Paloma Escuderos Reise führte sie weiter in die Halima Khazan Schule, ebenfalls in Gardez, wo sie sich mit dem Lehrpersonal, der Direktorin und den 2 000 Schülerinnen und 460 Schülern über ihren Schulalltag, ihre Wünsche und ihre Ziele unterhielt. «Ich fragte die Mädchen nach den Dingen, die sie am liebsten malen (Pferde!), und nach ihren Lieblingsthemen (Schreiben!). Zwei Mädchen hüpften nach vorne, um uns ihre Fähigkeiten zu zeigen. Ihre Freude an der Schule und am Lernen war so greifbar, dass mir der Atem stockte. Wir wissen noch nicht, ob diese wunderbaren, fleissigen Mädchen die 7. Schulstufe erreichen werden.»
Zum Zeitpunkt des Besuches in Gardez waren Mädchen der Sekundarstufe noch immer nicht in der Lage, die Schule zu besuchen. Obwohl verschiedene Erklärungen der De-facto-Behörden darauf hinweisen, dass die Entscheidung über den Schulbesuch von Mädchen rückgängig gemacht werden soll, herrscht noch keine Klarheit darüber, unter welchen Bedingungen dies geschehen wird. Insgesamt 4,2 Millionen Kinder besuchen momentan keinen Schulunterricht. Doch trotz der Beschränkung bleiben die Sekundarschulen in neun Provinzen Afghanistans für Mädchen geöffnet. Dennoch bedeutet die Entscheidung der Taliban, die weiterführenden Schulen für Mädchen zu schliessen, einen schweren Rückschlag. Schätzungsweise 1,1 Millionen heranwachsenden Mädchen, sowie künftige Generationen von Mädchen, wird dadurch das Recht auf Bildung verwehrt.
Quelle der Hoffnung
UNICEF ist seit über 65 Jahren vor Ort und ergreift in seiner Arbeit ausschliesslich Partei für Kinder. Aus diesem Grund setzt sich das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen nach wie vor bei der De-Facto-Regierung für die Bildung von Mädchen ein. In den vergangenen Monaten konnte UNICEF ihre Hilfe gemeinsam mit einem breiten Netzwerk an Partnern massiv ausweiten. 2,3 Millionen Mädchen besuchen weiterhin die Primarschule. «Das ist eine Quelle der Hoffnung», sagt Sam Mort, Kommunikationschefin von UNICEF Afghanistan. «Was uns inspiriert, ist die Nachfrage nach Bildung - von Kindern und ihren Eltern im ganzen Land, für Mädchen und Buben».
Im Moment gehen insgesamt rund 9,3 Millionen Kinder zur Schule, darunter 3,6 Millionen Mädchen. 2001 waren es gerade mal eine Million Kinder. Diese Fortschritte dürfen jetzt nicht rückgängig gemacht werden. «Wir dürfen diese Kinder nicht aufgeben», betonte Paloma Escudero nach ihrer Reise. «Schulen sind mehr als nur ein Ort zum Lernen. In diesen schwierigen Zeiten sind sie ein sicherer Ort für Mädchen und Buben, ein Ort mit sauberem Wasser und Essen. Ein Schutz vor der Strasse und vor Unheil.»
Kinder müssen an erster Stelle stehen
«In Afghanistan hörte ich Geschichten des Leidens, aber auch Geschichten der Hoffnung», sagte Catherine Russell über ihren Aufenthalt in Afghanistan. «Kinder sind so widerstandsfähig und können sich oft wieder aufrappeln, egal wie schwer es ist. Sie brauchen nur Unterstützung. Wir sind es den Ranas und Wahidas dieser Welt schuldig, ihnen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchen, um das Potenzial auszuschöpfen, zu dem sie fähig sind.» Die UNICEF-Teams vor Ort gehen über das normale Mass hinaus, um Kindern zu helfen, zu lernen, gesund zu bleiben und sich geschützt zu fühlen. Dennoch bedarf es weiterhin an Unterstützung, um den Kindern die bestmögliche Hilfe zu leisten.
«Wir brauchen politischen Willen. Wir brauchen ein klares Bekenntnis von allen, dass Kinder immer an erster Stelle stehen.»
UNICEF hat in den letzten sechs Monaten mit vereinten Kräften daran gearbeitet, den Zugang zu sauberem Wasser, Nahrung, Gesundheitsdiensten und Bildung zu ermöglichen.
Damit UNICEF die Arbeit wirkungsvoll umsetzen kann, benötigt es weiterhin finanzielle Mittel, um Kindern und Familien in Not akute Hilfe zu leisten. Es ist besonders wichtig, dass die internationale Gemeinschaft, die De-facto-Behörden und die Leiter der Gemeinden zusammenarbeiten, um diesen Kindern eine Chance auf eine würdevolle Kindheit zu ermöglichen.