Kinder- und Jugendorganisationen sind angesichts der Platzierung psychisch belasteter Minderjähriger in Gefängnissen erschüttert. In einem offenen Brief an verschiedene kantonale Konferenzen im Bereich Gesundheit, Erziehung, Justiz und Soziales fordern Pro Juventute und UNICEF Schweiz und Liechtenstein in einer gemeinsamen Allianz mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen deshalb einen raschen Ausbau alters- und fachgerechter Unterstützungsangebote.
Sehr geehrte Damen und Herren
Wie Recherchen von SRF Investigativ am 15. November 2023 enthüllten, hat der Platzmangel in der Jugendpsychiatrie und in Heimen dazu geführt, dass betreuungs- und therapiebedürftige Jugendliche in Gefängnissen eingesperrt wurden. Dies, obwohl die Betroffenen nie strafrechtlich verurteilt worden sind. So haben in den Jahren 2021 und 2022 die Behörden aus sechs Kantonen sowie aus dem Fürstentum Liechtenstein in 27 Fällen Jugendliche zivilrechtlich der Jugendabteilung des Regionalgefängnisses Thuns zugewiesen. Die Dunkelziffer solcher Massnahmen dürfte noch höher sein. Zum Zuge kommen dabei Art. 307 ff. des Zivilgesetzbuches, welche Entscheide von zuständigen Behörden zulassen, um «mit geeigneten Massnahmen eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden». Was ursprünglich als Notlösung gedacht war, kann unter Umständen wochenlang andauern.
Die unterzeichnenden Organisationen setzen sich nachdrücklich für das Wohl und die Rechte aller Kinder und Jugendlichen in der Schweiz ein. Die Tatsache, dass vulnerable Minderjährige, die unter psychischen Belastungen leiden, inhaftiert werden, anstatt jugendgerecht und mit therapeutischer Unterstützung untergebracht zu werden, macht uns betroffen und stellt eine eklatante Verletzung der Kinderrechte dar. Es ist höchst bedenklich, dass die anhaltende Unterversorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus Sicht der Behörden solche Massnahmen erfordert.
Psychisch belastete Kinder und Jugendliche haben Anrecht auf einen besonderen Schutz und geeignete therapeutische und pädagogische Massnahmen durch die öffentliche Hand. Zivilrechtliche Zuweisungen in Strafvollzugsanstalten laufen zudem der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (KRK) zuwider, wie etwa die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kritisiert. So ist das Setting der Strafvollzugsanstalten nicht dafür ausgestattet, adäquat auf die psychisch belasteten Jugendlichen einzugehen. So können eine alters- und fachgerechte Unterbringung, Betreuung und Therapie sowie die Fortführung der schulischen Bildung in den jeweiligen Strafvollzugsanstalten nicht sichergestellt werden.
Artikel 39 der Kinderrechtskonvention betont, dass der Staat dafür Sorge trägt, die nötigen Massnahmen zu treffen, um psychisch belastete Kinder und Jugendliche bestmöglich zu unterstützen in einer Umgebung, «die der Gesundheit, der Selbstachtung und der Würde des Kindes förderlich ist».
Minderjährige ohne strafrechtliche Verurteilung dürfen aus kinderrechtlicher Sicht nicht in Einrichtungen des Strafvollzugs platziert werden. Anstatt der notwendigen fachlichen Unterstützung erhalten die betroffenen Jugendlichen ein Zeichen der Bestrafung und der Unerwünschtheit. Dies kann das Vertrauen der Jugendlichen in das System und in die Gesellschaft nachhaltig erschüttern, was für eine erfolgreiche Weiterführung der therapeutischen Massnahmen und die individuelle Entwicklung wiederum fatal ist. Wir sind überzeugt, dass die Politik in der Verantwortung ist, selbst- und fremdgefährdende Minderjährige zu schützen und dafür die notwendigen Strukturen und Angebote zu schaffen.
Die publik gewordene Zuweisungspraxis ist umso problematischer angesichts der derzeit drastisch erhöhten psychischen Belastung junger Menschen in der Schweiz. Covid-19, der Krieg in der Ukraine und nun im Nahost, zunehmende soziale Ungleichheiten, Leistungsdruck oder der Klimawandel: Zahlreiche aufeinanderfolgende Krisen überlappen sich zu einer Multikrise und fordern die junge Generation in ihrem Heranwachsen heraus. Die Kindheit und Jugend ist eine ohnehin schon herausfordernde Zeit mit vielen Veränderungen und Weichenstellungen. Kinder und Jugendliche verfügen über weniger Bewältigungsstrategien als Erwachsene. Zudem sind durch soziale Medien globale Krisensituationen unmittelbarer und ungefilterter im Leben junger Menschen präsent. Und die Multikrise trifft auf ein überlastetes Versorgungssystem für Kinder und Jugendliche. Je nach Kanton warten psychisch belastete Kinder und Jugendliche unterschiedlich lange auf einen Therapie- respektive auf einen Behandlungsplatz, teilweise bis zu einem halben Jahr.
Wir appellieren an Sie, hinzuschauen und sofortige Schritte zu unternehmen, um diese höchst problematischen Massnahmen zu überprüfen. Es ist unerlässlich, dass psychisch belasteten Minderjährigen der Zugang zu geeigneten Therapieplätzen gewährt wird, anstatt sie in einem Umfeld zu platzieren, das für eine psychisch gesunde Entwicklung äusserst schädlich ist.
Sie, als politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sind gefordert, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, damit sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen verbessert.
Wir hoffen, dass Sie die Dringlichkeit und Sensibilität dieser Angelegenheit erkennen und sich aktiv für eine positive Veränderung einsetzen, damit die junge Generation die Unterstützung erhält, die sie braucht.
Hier können Sie unseren offenen Brief unterzeichnen.